Waldstetten (Druckversion)
Autor: Frau Herkommer
Artikel vom 13.02.2017

Quo vadis Türkei? VHS-Vortrag am 9. Februar 2017 im Waldstetter Rathaus

Von der parlamentarischen Republik zur Präsidialrepublik

Ein mit fundiertem Wissen gespickter Vortrag über die aktuelle Situation – aber auch Vergangenheit – der Türkei erwartete die Besucher am Donnerstagabend im Waldstetter Rathausfoyer. Matthias Hofmann, Historiker und Orientalist, berichtete darüber unter dem Titel „Quo vadis Türkei?“ auf Einladung der Gemeindeverwaltung und Gmünder VHS. 

Nach dem Vorwort von Schultes Michael Rembold stellte sich der Referent den Besucher kurz vor und lieferte vorab Zahlen und Fakten zur Türkei. Ministerpräsident und somit Regierungschef ist Binali Yldirim, das Präsidentenamt übt Recep Tayyip Erdogan aus. Matthias Hofmann gab Einblick in das politische System – ab dem 18. Lebensjahr ist jeder Bürger verpflichtet, seinem Wahlrecht nachzukommen – die Finanzen und Wirtschaft. Er erklärte, dass die Türkei seine Chance nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes genutzt und sich gen Osten neu orientiert hatte: Neues wirtschaftliches Betätigungsfeld wurden nach und nach die neu entstehenden Staaten in der Kaukasusrepublik. Alle Wirtschaftsverträge für den Kaukasus werden in der Türkei unterzeichnet, alle Pipelines von dort enden in der Türkei. Die Türkische Innenpolitik war das nächste Thema des Referenten. Erdogan beabsichtige, die türkische Verfassung in ein Präsidialsystem zu verändern. 

Das Thema Türkei und Europa hat seinen Anfang im September 1959 mit der Bewerbung der Türkei um die Aufnahme als assoziiertes Mitglied in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) genommen. 1963 wurde ein Assoziierungsabkommen mit dem Ziel der Schaffung einer Zollunion unterzeichnet. 1996 entstand die EU-Zollunion. Drei Jahre später erhielt das Land den Status eines offiziellen Beitrittskandidaten der EU, 2005 starteten die Beitrittsverhandlungen. Seit 2009 hat die Türkei einen Europaminister. Doch im März 2010 sowie September 2011 hatte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen den Beitritt ausgesprochen und plädierte stattdessen für eine „privilegierte Partnerschaft“, die auf vehemente Ablehnung seitens der Türkei stieß. Im Oktober 2015 gab die deutsche Regierungschefin zugunsten einem Flüchtlingsdeal ihren Widerstand auf. Da sich das Europaparlament entsprechend den Bewohnerzahlen zusammensetzt – Deutschland und Frankreich haben derzeit die meisten Vertreter -, würde sich die Macht nach einem Türkei-Beitritt zu dessen Vorteil verschieben, die Türkei würde League-Nation werden. 

Als nächste wichtige Faktoren nahm Hofmann das Militär und die NATO enger unter die Lupe. So hatte das Militär (481.000 Soldaten) bis 2003 im Nationalen Sicherheitsrat die entscheidende Macht und konnte die Innenpolitik des Staates kontrollieren. Da die EU aber nur demokratische Elemente in der Politik akzeptiert, wurde der Nationale Sicherheitsrat von Erdogan 2003 – nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten - weitestgehend entmilitarisiert, sodass es nun keinen politischen Einfluss mehr hat. Die Angriffe Syriens auf die Türkei führten dazu, dass die NATO im Januar 2013 Patriots-Systems an die türkisch-syrische Grenze verlegte und somit ihr Bündnis mit der Türkei bekundete. Die seit 2011 in die Türkei geflohenen Syrer werden mit Masse in grenznahen Gebiert gehalten, um sie in so genannten syrischen Pufferzonen über die Grenzen zurückzuführen und die kurdischen Autonomen in Syrien mit Flüchtlingen geradezu zu erdrücken. Das wiederum will die EU nicht und hat Erdogan zu Gesprächen nach Brüssel eingeladen. Dessen Forderung: Mehr Geld für die Bewältigung der Flüchtlingskrise, Erleichterung bei der Visumspflicht für Türken bei der Einreise in die EU (mit Erfolg: seit Juni 2016 bedarf es keines Visums mehr), Aussicht auf EU-Beitritt, freie Hand beim Kampf gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK und den syrischen Ableger PYD. Dabei weist der Referent darauf hin, dass die EU das Vorgehen der Türkei gegen die Kurden in der Türkei, im Irak und in Syrien nicht kritisiert!

Nach diesen Vorinformationen ging Hofmann auf den Putsch am 15. und 16. Juli – den Sommerferien in der Türkei – ein. Er fasste den Ablauf nochmals zusammen und unterstrich mehrmals, dass zu diesem Zeitpunkt der Großteil der Türken im Urlaub weilt! Mit zehn Panzern, 1000 von 84.000 Soldaten, sechs Kampfflugzeugen und zwei Hubschraubern wird der Putsch freitagabends, als Anti-Terror-Einsatz getarnt, versucht. Bereits in der Nacht auf Sonntag ist laut Yildirim „Die Situation weitgehend unter Kontrolle.“ Am Nachmittag starten die Verhaftungen. Hofmann ist überzeugt: „Erdogan wusste von den Putschabsichten.“ Erdogan war bis 2011 enger Freund von Fethullah Gülen, seinem geistigen Ziehvater. Nach dem Putsch sieht er in dem mittlerweile in Amerika lebenden geistlichen Oberhaupt der islamischen Gülen-Bewegung den Drahtzieher. Kurzum: Zuerst verhalf er im zum Erfolg, dann soll er aus dem Weg geräumt werden.

Vier Tage danach wird der Ausnahmezustand für drei Monate ausgerufen und jeweils nach Ablauf um weitere 90 Tage zweimal verlängert. Ziel des Präsidenten ist die Einführung eines neuen Präsidialsystems, über das das Volk am 23. April – dem Nationalfeiertag – abstimmen soll. Dafür sind 51 % der Stimmen nötig, was durch die Wahlpflicht realisierbar ist. Somit wäre der türkische Präsident nicht nur Staats- sondern auch Regierungschef; das Amt des Ministerpräsidenten würde entfallen und der Präsident würde Minister ohne Parlamentsanhörung ernennen, könnte das Parlament auflösen und Gesetzesvorhaben mit seinem Veto blockieren. Auch dürfte er einer Partei angehören, was bisher nicht möglich ist. Nach Absicht Erdogans soll die neue Verfassung – sofern von der Bevölkerung angenommen – erst mit dem Ende seiner Präsidentschaft 2019 in Kraft treten, denn das hätte zum Vorteil, dass er nochmals für zwei weitere Amtszeiten an der Macht sein könnte.

Infos zum Referenten

Matthias Hofmann studierte Geschichte und Orientalistik in Stuttgart und Tübingen sowie Medienwissenschaften in Tübingen. Seit seinem Studium widmet er dem Zusammentreffen von Orient und Okzident in der Geschichte und auch in der aktuellen Politik viel Aufmerksamkeit. Denn viele Probleme der westlichen Welt mit dem Orient seien in der älteren oder jüngeren Geschichte begründet, bzw. lassen sich aus ihr heraus erklären.

Wer noch mehr über den Referenten wissen möchte, sollte dessen Homepage anklicken.

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